Wanganui, Februar 1864
Lily Carrington, die eigentlich auf den Namen Emily getauft worden war, doch von allen nur Lily genannt wurde, liebte Ripeka über alles. Die Maori war früher ihre Kinderfrau gewesen und hatte ihre Mutter June und sie als treue Haushaltshilfe begleitet, wo sie in all den Jahren auch immer gelebt hatten. Und Lily war schon viel herumgekommen. Bis zum Tod ihres Großvaters Walter hatte sie in dessen Haus in Auckland gelebt. Zusammen mit ihrer Mutter, während ihr Vater Henry die meiste Zeit des Jahres in Wanganui, seinem Geschäftssitz, verbracht hatte. Nachdem Lily ihren Schulabschluss in der Hauptstadt gemacht hatte, waren sie schließlich gemeinsam nach Wanganui gezogen. Doch nun hatte der Vater plötzlich ganz andere Pläne für die Familie und wollte sein Glück auf der Südinsel versuchen. In einer Stadt, die nach dem dortigen Goldrausch als die aufregendste des Landes galt.
»Du kommst doch mit nach Dunedin, nicht wahr?«, fragte Lily, während sie Ripeka zum Kolonialwarenladen begleitete, um ein wenig mit ihr zu plaudern.
Ripeka seufzte schwer. »Was soll ich denn sonst machen? Ich kann dich doch nicht allein lassen.« Kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte, bereute sie diese schon wieder. Schließlich hatte Lily noch ihre Eltern. »Ich wollte nur sagen, dass ich mir ohne dich furchtbar allein vorkäme«, verbesserte sich die Maori hastig.
»Nein, nein, das war schon richtig. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich anfangen sollte. Vater ist bestimmt auch in Dunedin nie zu Hause, und Mutter muss immerzu geschont werden.«
»Sie hat nun einmal ein krankes Herz, aber sie liebt dich.«
»Ich weiß, aber wenn ich ehrlich bin, ich freue mich auf unseren Umzug. Ich kann es gar nicht mehr erwarten. Vier lange Wochen noch.«
Ripeka lächelte verschmitzt. »Hat das vielleicht etwas damit zu tun, dass auch Edward und seine Eltern nach Dunedin übersiedeln, und zwar schon übermorgen?«
Lily wurde rot. »Nein, daran habe ich gar nicht gedacht«, erklärte sie empört, weil sie sich ertappt fühlte. Natürlich hatte Ripeka nicht ganz unrecht. Dass Edward mit nach Dunedin kam, war sicher ein Grund, warum ihr der Abschied von Wanganui nicht schwerfallen würde, aber es gab noch einen weiteren. Sosehr sie den Wanganuifluss liebte, es zog sie in diese einwohnerreichste Stadt im Süden, über die sie schon so viel Spannendes gehört hatte.
Sie wollte Ripeka gerade gestehen, dass sie Edward, den jungen Mann mit dem dichten dunklen Haar, sehr nett finde, als die Maori stehen blieb und die Straße entlangstarrte, als habe sie einen Geist gesehen.
»Ripeka?«, sprach Lily sie an, doch die Maori reagierte nicht.
Ripeka glaubte zunächst, es handele sich um eine Täuschung, aber als der Maori mit dem tätowierten Gesicht näher kam und mit ebenfalls ungläubigem Gesichtsausdruck vor ihr stehen blieb, wusste sie, dass er es war.
»Ripeka?«, fragte Matui. »Was tust du hier in Wanganui?«
»Das wollte ich dich auch gerade fragen«, erwiderte sie und bemerkte aus den Augenwinkeln Lilys neugierigen Blick.
»Ich soll für ein neues Versammlungshaus in einem Maori-Dorf am Fluss die Schnitzereien machen.«
Seine Augen wanderten zu Ripekas Begleiterin. In seinem Blick stand genau die Frage geschrieben, vor der die Maori sich am meisten fürchtete: Ist das vielleicht Maggys Tochter? Und wenn, wieso ist sie hellhäutig und rotblond? Und warum ist sie Emily Carrington wie aus dem Gesicht geschnitten?
»Ich arbeite im Haushalt von June und Henry Carrington«, erklärte sie hastig.
Matui aber blieb stumm und musterte stattdessen Lily durchdringend.
»Das ist Lily, die Tochter der beiden.« Ripeka warf ihm einen flehenden Blick zu. Matui schien zu verstehen. Er reichte der jungen Frau lächelnd die Hand. »Guten Tag, Lily, schön, Sie kennenzulernen.«
»Und wer sind Sie?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ihr Großvater hat mich einst vor einem feindlichen Stamm gerettet, und ich habe meine Kindheit im Haus von Walter Carrington verbracht.«
Lily strahlte ihn gewinnend an. »Dann kennen Sie ja auch meinen Vater. Ach, was rede ich? Dann müssen Sie mit ihm aufgewachsen sein. Oh, der wird sich freuen, Sie zu sehen. Wissen Sie, wo wir wohnen? Schauen Sie dort das große Haus am Fluss. Das gehört uns. Wollen Sie schon vorgehen, oder soll ich Sie dorthin bringen?«
Ripeka aber bebte am ganzen Körper. Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Ich glaube, das ist keine gute Idee. Matui stand damals auf der Seite der Aufständischen, und im Verlauf der Kämpfe wurde auch deine Großmutter Emily getötet, nach der du benannt bist. Das haben ihm dein Großvater und dein Vater nie verziehen.«
Lilys Gesicht verdüsterte sich. »Wie lange ist das denn schon her?«
»Neunzehn Jahre«, erwiderte Matui ungerührt.
»Aber das kann man einander doch wohl verzeihen, das ist ja eine halbe Ewigkeit her.«
»Es gibt Dinge im Leben, die unverzeihlich sind«, mischte sich Ripeka mit heiserer Stimme ein.
»Genau«, entgegnete Matui kalt, während sich sein Blick an Lilys rotblonden Locken und ihrem hübschen Gesicht festgesogen hatte. Und in diesem Augenblick traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Ich muss blind gewesen sein, dachte er. Was hatte nähergelegen als das? Nur wenige Zimmer hatten Henry von Makeres Bett getrennt.
»Wissen Sie, dass Sie große Ähnlichkeit mit Ihrer Großmutter haben?«, fragte er lauernd.
Lily lächelte. »Ja, das behauptet Mutter auch immer. Aber ist das ein Wunder? Ich bin ja schließlich ihre Enkelin.«
Ripeka geriet ins Schwitzen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, denn sie kam nicht umhin, in Matuis Augen zu lesen. Und darin stand geschrieben, dass er in diesem Augenblick ahnte, welchem fatalen Spiel er soeben auf die Schliche gekommen war. Und dass er offenbar auch nicht zögern würde, alle jene Wahrheiten auszusprechen, die Lilys bisheriges Leben in Schutt und Asche legen würden.
»Komm, Kind, wir müssen gehen«, befahl sie deshalb streng und fasste ihren Schützling am Arm, um ihn mit sich fortzuziehen.
»Ja, dann noch einen schönen Tag«, wünschte Matui freundlich, doch dann fügte er eindringlich hinzu: »Vielleicht interessiert es dich, Ripeka, aber meine Schwester ist tot. Ich habe sie all die Jahre gepflegt. Sie hat nie wieder ein Wort gesprochen. Deshalb konnte ich nicht früher fort, aber ich glaube, ich weiß jetzt, wohin der Weg mich führen wird, bevor ich an den Fluss zu meinen Brüdern gehe.«
Dann wandte er sich um und schlenderte in aller Ruhe in Richtung des Hauses, das ihm Lily eben so bereitwillig gezeigt hatte. Er hatte alle Zeit dieser Welt und musste nur den rechten Augenblick abpassen.
»Was hat er denn damit gemeint?«, fragte Lily, während sie Matui neugierig hinterhersah.
»Was weiß ich«, murmelte Ripeka, während sie ihren Weg fortsetzte. Und zwar so schnell, dass Lily Mühe hatte, ihr zu folgen.
»Nun bleib doch mal stehen!«, rief sie ihr ärgerlich nach, doch Ripeka kümmerte sich nicht darum, bis sie bei dem Kolonialwarenladen angelangt waren.
Lily hielt Ripeka schließlich am Ärmel fest, als diese das Geschäft betreten wollte, ohne ihr Rede und Antwort zu stehen.
»Ripeka, ich kenne dich so lange und habe dich noch nie so aufgeregt erlebt...« Sie stockte erschrocken, als sie in Ripekas feuchte Augen blickte. »Hast du sie gut gekannt, seine Schwester?«
Ripeka nickte und wischte sich hastig die Tränen aus den Augenwinkeln.
»Ja, sie war ein liebes Mädchen, aber als der Krieg dort oben ausbrach, haben wir auch zu ihr den Kontakt verloren.«
Lily umarmte Ripeka mitfühlend, doch statt sich zu beruhigen, schluchzte die Maori laut auf. Mit einem Mal überkamen die Zweifel sie mit einer Heftigkeit, derer sie sich nicht erwehren konnte. War es richtig gewesen, Henry all die Jahre zu decken, während Maggy in Kaikohe vor sich hin gedämmert war? Und was hatte es Lily gebracht, außer dass sie im Wohlstand lebte? Ihren Vater sah sie doch kaum noch, und merkwürdigerweise hatte er sich von Anfang an nicht sonderlich für seine Tochter interessiert. Wahrscheinlich weil er sie für ein adoptiertes fremdes Kind hielt ... Nein, besondere Zuneigung hatte er ihr nie entgegengebracht. Genauso wenig wie seiner Frau, der er mit seiner Kälte über all die Jahre schier das Herz gebrochen hatte. June war vorzeitig gealtert, kugelrund und kurzatmig geworden. Über Henry munkelte man, dass er schon lange ein Verhältnis zu einer Maori aus einem Dorf unten am Fluss unterhielt. Ripeka schüttelte sich. Und sie hatte damals gehofft, das Mädchen werde eine liebevolle Familie bekommen, ganz gleich, was Henry getan hatte. Ob er sich ihr gegenüber anders verhalten hätte, wäre ihm bekannt gewesen, dass sie seine leibliche Tochter war? Und warum hatte er sich nicht längst einmal gefragt, warum Lily seiner Mutter so ähnlich sah? Doch Henry bemerkte das ja nicht einmal. Wie sollte er auch, war er doch die meiste Zeit betrunken. Wenn er nicht das viele Geld von seinem Schwiegervater geerbt und mit Tomas Newman einen ausgesprochen zuverlässigen Geschäftspartner gehabt hätte, hätte er nicht den großen Mann spielen können. Dabei waren seine und die Geschäfte seines Partners, die sie jahrelang im Namen der Company betrieben hatten, alles andere als sauber gewesen. Ripeka wusste von den Frauen der umliegenden Dörfer, dass er der meistgehasste Mann vor Ort war. Jede Menge undurchsichtiger Landverkäufe gingen auf sein Konto. Ripeka vermutete, dass darin der eigentliche Grund bestand, dass er fort wollte aus Wanganui. Es stand nämlich zu befürchten, dass die Maori aus den oberen Flussdörfern sich eines Tages wehren würden. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich etwas zusammenbraute und die Anhänger Te Uas oder Haumenes, wie er sich neuerdings nannte, auch nicht davor zurückschrecken würden, Wanganui anzugreifen. Ripeka zuckte zusammen. Ob Matui sich dem Führer des neuen Glaubens, des Hau-Hau, angeschlossen hatte? Diese Männer jedenfalls fürchteten gar nichts. Sie hassten die Pakeha so sehr, dass sie lieber heute als morgen Krieg gegen sie geführt hätten.
Ob Matui immer noch an seinen Rachegedanken festhielt? Hatte er nicht wörtlich gesagt: Ich weiß jetzt, wohin der Weg mich führen wird, bevor ich an den Fluss zu meinen Brüdern gehe? Henry ist heute Morgen in die Northlands abgereist. Den wird er im Haus nicht vorfinden, dachte Ripeka erleichtert, doch dann stockte ihr schier der Atem. Und wenn er nun June mit der Wahrheit konfrontierte und sie mit ihrem schwachen Herzen ... Ripeka wollte den Gedanken gar nicht zu Ende führen.
»Lily, wir müssen schnell zurück«, presste Ripeka gehetzt hervor, bevor sie sich im Laufschritt in Richtung Fluss aufmachte, zu dem mit Abstand prachtvollsten Haus weit und breit.
Lily folgte ihr und ahnte, dass Ripekas ungewohnte Aufregung mit dem Maori zu tun hatte, der ihnen gerade über den Weg gelaufen war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich merklich, denn sie hatte eine unbestimmte Ahnung, dass das alles etwas mit ihrem Vater und seinen dubiosen Geschäften zu tun hatte. Dazu passte, was sie neulich gerade erst auf dem Nachhauseweg erlebt hatte. Ein junger Maori hatte sich mitten auf dem Weg vor ihr aufgebaut und sie gewarnt, sie solle aus Wanganui abhauen, solange sie das noch könne. Als sie ihn mutig gefragt hatte, wie er dazu komme, sie auf offener Straße zu bedrohen, hatte er geantwortet: »Frag deinen Vater, Emily Carrington!«
Ihr war weniger die Drohung selbst unheimlich gewesen als vielmehr die Tatsache, dass er offenbar ihren Namen kannte.
Als Ripeka und Lily schließlich schnaufend und außer Atem das prächtige Haus betraten, kam ihnen June bereits gut gelaunt entgegen.
»Habt ihr alles für das Essen heute Abend mitgebracht? Wir müssen bald anfangen. Die Newmans kommen um sieben.«
Ripeka und Lily sahen einander verdutzt an.
»Nein, Mutter, wir haben noch gar nicht eingekauft. Ripeka hatte die Liste vergessen.«
Das brachte ihr einen dankbaren Blick der Maori ein.
»Aber nun los! Es wäre doch peinlich, wenn wir sie warten lassen müssten. Nachdem nun Vater schon wieder nicht dabei sein kann.«
Lily erschrak. Das hatte sie in der ganzen Aufregung um den fremden Maori völlig vergessen. Heute kam Edward zum Abendessen, und sie musste sich noch umkleiden, frisieren ...
»Komm, Ripeka, lass uns schnell gehen!«
Die Maori folgte ihr. Kaum dass sie aus der Tür waren, konnte Lily ihre Neugier nicht mehr länger zügeln.
»Jetzt sag mir endlich, was los ist. Warum wolltest du unbedingt zurück? Du sahst aus, als sei der Teufel hinter dir her. Hast du Sorge gehabt, der Fremde jage Mutter einen Schrecken ein?«
Ripeka seufzte schwer. »Ja, ich habe gedacht, er geht wirklich zu ihrem Haus. Du musst nämlich wissen, dass Junes Eltern in jener Nacht auch umgekommen sind. Sie ist also ebenso wenig erpicht darauf, überraschenden Besuch von Matui zu bekommen. Und du weißt doch, sie soll Aufregungen meiden«, redete sich Ripeka rasch heraus.
»Aber Mutter hasst die Maori doch nicht so vehement wie ...«, entfuhr es Lily. Sie hielt erschrocken inne.
»Du wolltest sagen, wie dein Vater? Habe ich recht?«
»Nein, also ... ich glaube nicht, dass er alle Maori ablehnt.«
»Genau. Ich arbeite für ihn, und er hat mir noch nie etwas Übles angetan. Ich glaube, er hat eher Schwierigkeiten mit den Leuten vom oberen Flussufer. Immer mehr von ihnen nehmen die neue Religion an, und wir wissen ja, was dieser Haumene predigt.«
»Nein, ich weiß es nicht, und mir sagt ja auch keiner, was los ist«, klagte Lily und erzählte Ripeka, was ihr neulich widerfahren war.
»Um Himmels willen, er hat dir offen gedroht?«, rief die Maori erschrocken aus.
»Dann sag mir doch: Was hat dieser Haumene gegen meinen Vater?«
»Er gehört zu den Vertretern der Stämme, die glauben, dass die Pakeha aus dem Land vertrieben werden müssen, bevor sie alles hier an sich reißen.«
»Tun wir das denn?«
Ripeka wand sich. Sie wollte Lily nicht ängstigen, wenngleich sie Henrys Geschäftsgebaren ebenso verurteilte, wie es die anderen Maori taten.
»Mister Newman und dein Vater haben bis zur Auflösung der New Zealand Company dafür gesorgt, dass die Siedler in Massen nach Neuseeland geschwemmt wurden. Und irgendwo mussten sie ja bleiben. So haben sie immer mehr Land von den Maori gekauft, was nicht immer ganz ordentlich abgelaufen ist.«
»Aber die Company gibt es doch schon seit sechs Jahren nicht mehr.«
»Richtig, aber Mister Newman und dein Vater sind damit zu den reichsten Männern der Gegend geworden und machen in kleinem Rahmen weiter damit, immer neue Siedler ins Land zu holen. Und die Maori haben Angst, dass sie eines Tages völlig verdrängt werden. Es sind jetzt schon mehr Siedler im Land als Maori. Bedenke doch nur, wie viele von uns durch die Krankheiten der Pakeha gestorben sind.«
»Und gehört dieser Matui zu den Maori, die mich bedroht haben?«
Ripeka zuckte innerlich zusammen, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie war nur froh, dass Matui nicht zum Haus der Carringtons geeilt war, um seine verdammte Rache zu nehmen.
»Nein, nicht dass ich wüsste. Er kommt aus dem Norden. Das ist eine sehr persönliche Geschichte zwischen Henry und ihm. Aber nun komm, deine Mutter wird böse, wenn wir nicht rechtzeitig mit den Lebensmitteln zurück sind. Und mach dir keine Sorgen. Es wird keine Probleme geben. Außerdem sind wir doch ohnehin bald weit fort. In Dunedin soll alles friedlich sein, soweit ich gehört habe«, beeilte sich Ripeka zu sagen.
Lily stöhnte laut auf. Es war gar nicht so einfach, den Rat der Maori zu befolgen. Sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, dass sich ein Unheil über ihr zusammenbraute. Plötzlich wurde eine Ahnung zur Gewissheit, die sie bereits ihre ganze Jugend über begleitet hatte. Die Ahnung, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmte. Wie oft hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie sich ihren Eltern gegenüber manchmal auf merkwürdige Weise fremd fühlte. Wenn nicht die viel beschworene Ähnlichkeit mit der Großmutter gewesen wäre, sie hätte ernsthafte Zweifel gehegt, ob die beiden wirklich ihre Eltern waren. Allein vom Äußeren her. Und dann die Distanz, die sie zu ihrem Vater empfand. Es hatte ihr ja nicht einmal etwas ausgemacht, dass er die meiste Zeit getrennt von ihnen in Wanganui gelebt hatte. Seine lärmende, laute Art war ihr immer schon unangenehm gewesen, und seine abwertenden Äußerungen gegenüber den Maori berührten sie peinlich. Insofern konnte sie Ripekas Geschichte nachvollziehen. Aber wieso hatte ihr Großvater den Maori, der als Kind in seinem Haus aufgewachsen war, einfach verstoßen? Und was war mit seiner Schwester? Nein, hier stimmte etwas nicht, und Ripeka kannte das Geheimnis, doch diese machte ein solch abweisendes Gesicht, dass sich Lily nicht traute, sie mit jenen Fragen zu überhäufen, die ihr auf der Seele brannten.
So versuchte sie den ganzen Weg über, das ungute Gefühl, das in ihrem Bauch immer stärker grummelte, zu verdrängen und stattdessen an den heutigen Abend zu denken. An Edward, den charmanten jungen Mann, der ihr gegenüber noch niemals zudringlich geworden war. Aber der ihr gerade wegen seiner Zurückhaltung so gut gefiel. Und weil er unbedingt Arzt werden wollte. Etwas, das sich Lily auch von Herzen wünschte. Dann nämlich würde sie ihrer Mutter helfen können, aber sie wusste, dass dies abwegig war. Keine der jungen Frauen aus Wanganui wollte einen Beruf ausüben. Im Gegenteil, deren einziger Wunsch war es, die Junggesellen der Gegend zu umgarnen. Deshalb machte sich Lily auch keine allzu großen Hoffnungen, dass der umschwärmte Edward ausgerechnet sie erwählen würde. Und auch in Dunedin warteten bestimmt genügend junge Damen darauf, ihn zu heiraten. June behauptete zwar immer, dass ihre Tochter über die Maßen hübsch sei, aber darauf gab Lily nicht allzu viel. In den Augen ihrer Mutter war sie ohnehin stets die Klügste und Schönste. Lily aber fand die anderen Mädchen viel attraktiver. Sie wäre gern größer und kräftiger gewesen und wünschte sich dunkles Haar, wie die jungen Maori-Mädchen es hatten.
Lily seufzte noch einmal tief und versuchte sich vorzustellen, was sie tun konnte, um heute Abend möglichst vorteilhaft auszusehen. Zum großen Kummer ihrer Mutter machte sie sich in der Regel wenig aus modischer Kleidung und ordentlichen Frisuren. Doch heute war ein besonderer Tag. Edward kam zum Essen. Da fiel ihr das blaue Seidenkleid mit der weißen Spitze ein, das June ihr neulich hatte schneidern lassen. Und wenn sie ihre Locken aufstecken würde, statt sie offen zu tragen? Ja, das konnte sie sich vorstellen, aber so richtig Freude wollte bei dem Gedanken, sich als Dame herauszuputzen, nicht aufkommen. Viel aufgeregter war sie bei der Vorstellung, was Edward wohl sagen würde, wenn sie ihm den verletzten Kiwi zeigte, den sie wieder gesund gepflegt hatte. Sie hatte ihn dem Maul eines Hundes entrissen und anfangs nicht geglaubt, dass er überleben würde. Nun bewegte er sich sogar nachts schon wieder im Garten. Bald würde es Zeit, ihn wieder im Wald auszuwildern ...«
Lilys Augen leuchteten bei der Vorstellung, Edward diesen Vogel vorzuführen.